anse
Platin Member VIP
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Ich habe „Bilal“ von Fabrizio Gatti erst einmal sacken lassen, nachdem ich es an einem Tag gelesen haben, denn zur Seite legen konnte ich es nicht. Auf dem ersten langen Teil der Reise von Dakar bis an die libysche Grenze fährt er rechtlos, den Schikanen und der Gewalt von Polizei und Militär ausgesetzt wie Millionen Afrikaner auf überladenen, mit Menschen vollgestopften Schrottlastwagen durch die Wüste. Das Leben im nachkolonialen Afrika ist derart perspektivlos und verarmt, von Kriegen und Bürgerkriegen zerstört, der Müllplatz Europas, dass die Flucht ins Unbekannte, das Leben zu riskieren immer noch besser erscheint, als in der Heimat das Martyrium ohne Ausweg zu tragen. Überall warten Schleuser, Fahrer, korrupte Beamte auf Geld, auf viel Geld. Am schlimmsten sind die Flüchtlinge dran, die nichts mehr haben und irgendwo in der Wüste hängen bleiben. Gatti lernt beide Seiten kennen, ist Augenzeuge, Chronist, Zuhörer: die Menschenhändler und ihre Komplizen auf der einen Seite und die Menschen mit Namen und Antlitz, die aus dem Elend in erträglichere Verhältnisse wollen, auch als illegale Arbeitssklaven auf den Tomaten- und Broccolifeldern, als Schwarzarbeiter auf Baustellen ohne Arbeitsschutz. Aber von dem verdienten Lohn, der nach italienischen Verhältnissen miserabel ist, können sie die Familien in den zerstörten Ländern Afrikas unterstützen. Libyen ist für Gatti verbotenes Land. Von dort berichten die beiden liberianischen Brüder Joseph und James von der Weiterreise. Auf die Höllenfahrt durch die Wüste folgen noch schlimmere Verhältnisse in Tripolis, wo die Flüchtlinge völlig rechtlos sind, gnadenlos ausgenommen werden und in ständiger Angst vor der Inhaftierung in den Lagern sind. In die kommen jene Bootsflüchtlinge, die von Lampedusa nach Libyen zurückgebracht werden. Auf Lampedusa wird Gatti zum kurdischen Flüchtling Bilal, wird aus dem Meer gefischt und ins Flüchtlingslager gebracht, erlebt die „Gastfreundschaft“ des italienischen Staates, die Gewalttätigkeit, die Misshandlungen, bei denen kein Blut fließt, keinen Beweise sichtbar sind und den Rassismus seiner Wärter, die Angst seiner Mitgefangenen. Und immer wieder doch noch Hoffnung. Am Ende des Buches kann sich der Leser selbst eine Antwort darauf geben, warum Millionen Illegale es dennoch wagen, durch die Wüste und über das Meer in die „Festung Europa“ zu fliehen, dort auch niedrigsten und härtesten Arbeiten annehmen. Wir sind mitten in einer Völkerwanderung, die ihren Ursprung in der Zerstörung der Kulturen Westafrikas und dem Sklavenhandel nach Nord- und Südamerika hat, der vor 500 Jahren begann. Fabrizio Gatti, Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, Kunstmann Verlag 2010, 24,90 Euro, 460 Seiten, die von Friederike Hausmann und Rita Seuß vorzüglich übersetzt sind
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