anse
Platin Member VIP
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Bei Waldbrand Tel. 1515
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@Todd, Danke für Deine kritischen Postings! Wo ich wohne: ein knappes halbes Jahr in der deutschen Provinzidylle als Landpomeranzer, die etwas längere Hälfte als Reiseleiter, Wanderführer und Bücherschreiber in Calabrien und Sizilien. Ganz klar und keine Einwände: Noto oder Matera 1950 waren ganz anders. Da war das heutige Weltkulturerbe nicht die zwischen schlecht und mäßig für die Kulturtouristen gepflegte Sehenswürdigkeit, sondern der Alltagsalptraum mit Hunger, Trachom, Promiskuität, Analphabetismus, der Aussicht auf Elend ohne Ende und harter Repression, wenn sich jemand wehrte. Christus kam eben nur bis Eboli, obwohl das 1935 auch nicht das Paradies auf Erden war. Trachom, Hunger, Analphabetismus sind auch jenseits von Eboli Vergangenheit. Aliano, das Gagliano Carlo Levis, zeigt dank der Renten, die in Deutschland, Belgien usw. verdient wurden, und dank etwas Bildungs- und Schultourismus einen gewissen Wohlstand, den man in der harschen Landschaft nicht erwartet. Die Provinzhauptstadt, Weltkulturerbe ist Welten von den Ein-Raumbehausungen in den Höhlen entfernt, wo alle zusammenlebten, die Menschen (mit vielen Kindern), die Hühner, der Esel (sofern es dafür reichte), das Schwein, vielleicht noch eine Ziege, jede Menge Ungeziefer, Zanzare, die Malaria verbreiteten. Die Sassi waren die Hölle auf Erden. Ich kenne die Fotos (schwarzweiß) meines schon lange toten Freundes Rosario Genovese, die er leider auch nur in Schuhkartons archiviert hatte, der mit der Kamera durch die Sassi ging, der Stadtführer für Cartier Bresson war, dokumentierte, sich an die Frauen ranmachte (bezahlt wurde mit Brot, Öl, Aspirin, Chinin gegen die Fieberanfälle der Malaria), deren Männer als Tagelöhner in sicherem Abstand waren. Matera ist weit weg von 1955, als in den Sassi noch über 20.000 Menschen hausten. Heute ist das Weltkulturerbe zwischen zerbröselter Ruine, Müllhalde, mehr oder weniger schicken Wohnungen (aber nicht nur ein Raum) für Menschen, die sich im Plattenbau oder dem Einfamilienreihenhaus am Stadtrand weniger wohl fühlen. Es gibt einige schöne Bed & Breakfasts in den Sassi, stilvolle Kleinhotels, Galerien, ein Hostel. Im Städte-Vergleich der Lebensqualität von „Il Sole – 24 ore“ nimmt Matera den ehrenhaften 57. Platz unter 103 ein, ist damit die Spitzenstadt Süditaliens. Danach kommt fast nur noch Süden. Es gibt also die beiden Italien, deren Entwicklung immer weiter auseinander geht, trotz kleiner Wohlstandsoasen wie Melfi (PZ) oder Termoli (CB), wo es Industrie ohne Zukunftsängste gibt (Fiat Punto und Transporter werden dort gebaut) oder blühenden Touristenorten wie San Giovanni Rotondo (hier wirkt der Segen von Padre Pio), Alberobello (ach wie schön und niedlich, aber auch nervend), Capri, Ischia, Taormina, Cefalù, Lipari, Costa Smeralda und Umgebung. Ein Glück, dass es sie gibt! Sind zwar die reine Industrie, viel besser als das Hungertuch, an dem die „edlen Wilden“ nagen. Oder besser so tun, als ob sie das täten Oder auch die ganz kleinen Lichtblicke wie (jetzt dreimal Lukanien, dreimal Calabrien) und dreimal Sizilien: Accettura (MT), San Costantino Albanese (PZ), Terranova di Pollino (PZ), Civita (CS), Bivongi (RC), Bova Superiore (RC), Castelbuono (PA), Linguaglossa (CT), Buscemi (SR), wo Tourismus in der Nische und kluge, engagierte Menschen vor Ort, nicht immer Einheimische, Netzwerke haben entstehen lassen, die offen sind für Einsteiger, auch für die Leute, die zuerst misstrauisch sind, oder auf den starken Arm von Staat und Politik warten. Klar: die genannten Orte haben gute Startvoraussetzungen, Sympathiepotenziale (Lage, Ortsbild, aufregende Umgebung, Feste, noch vorhandene Gastrokultur und anderes). Aber sie sind zugleich Orte, die eigentlich zu den Verlierern gehören müssten, denn sie liegen nicht am Meer, die Sehenswürdigkeiten machen sie nicht zum unbedingten Reiseziel und so sind sie auch nicht entsprechend in den Medien wie Reiseführern (gedruckt und im Netz), in Zeitungen und Zeitschriften präsent anse
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